Ameisen-Kruzifix empört Amerikas Rechte

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Streit um Aids-Kunst

Ameisen-Kruzifix empört Amerikas Rechte

Von Marc Pitzke, New York

Blasphemie? Schwulen*****? Fast zwanzig Jahre nach seinem Tod sorgt der Künstler David Wojnarowicz für Aufregung unter den US-Sittenwächtern. Sie kritisierten ein Video, mit dem er die Heuchelei der Aids-Ära anprangerte. Prompt flog es aus einer Ausstellung - und wurde damit erst recht zum Hit.

1987 war ein schweres Jahr für David Wojnarowicz. Der New Yorker Künstler und Filmemacher erfuhr, dass er HIV-positiv war, damals ein Todesurteil. Im November desselben Jahres verstarb sein Lebensgefährte und Mentor, der Fotograf Peter Hujar, an Aids.

Wojnarowicz reagierte auf die für ihn naheliegende Weise - mit Kunst. Er schuf einen Kurzfilm mit dem Titel "A Fire in My Belly", in dem er seine Trauer und seine Wut über die Grotesken des Aids-Zeitalters bündelte: die Gleichgültigkeit der Gesellschaft, die Ignoranz der Betroffenen, die Unerbitterlichkeit der Seuche. Das 20-minütige Epos ist bis heute schwer zu ertragen. Eine Einstellung zeigt ein Kruzifix, auf dem wie wild Ameisen herumkrabbeln - eine Metapher für die Panik der Menschen und die Tatenlosigkeit Gottes im Angesicht von Aids. Wojnarowicz überlebte seinen Liebhaber um fünf Jahre, dann erlag auch er der Immunschwächekrankheit. Sein Werk ging in den Kunstkanon des Aids-Zeitalters ein.

Im Oktober nahm die National Portrait Gallery, ein Museum des weltberühmten Smithsonian Institute in Washington, eine Vier-Minuten-Kurzfassung von "A Fire in My Belly" in seine neuesten Ausstellung auf. "Hide/Seek" heißt die, und sie zeigt 105 Porträtwerke prominenter US-Künstler, die sich mit Fragen von "Sexualität und Geschlecht" auseinandersetzen, darunter Ikonen wie Andy Warhol, Jasper Johns und Annie Leibovitz, die ein Schwarzweißfoto der lesbischen Komödiantin Ellen DeGeneres beisteuerte - halbnackt. Für zarte Gemüter brachte die Museumsleitung ein Warnschild an: "Diese Ausstellung enthält Motive für Erwachsene."

Leider stellte sich bald heraus, dass Washington keineswegs erwachsen genug ist für die Achtiger-Jahre-Provokation von Wojnarowicz - und dass die jüngste Welle der als Anstand getarnten Homophobie, die seit einiger Zeit durch ganz Amerika schwappt, auch vor der US-Hauptstadt nicht haltmacht.

"*****grafische Bilder schwuler Männer"

Zwei Monate lang ging alles gut. Das Video war über einen kleinen Touch-Screen zugänglich. Niemand störte sich. Niemand ekelte sich. Niemand beschwerte sich. Viele Amerikaner haben sowieso keine Ahnung, was sich dieser Tage hinter dem mächtigen Säulenportiko des Museums auf halber Strecke zwischen dem Weißen Haus und dem Kapitolshügel befindet.
Doch dann, am 30. November, verschwand "A Fire in My Belly" plötzlich über Nacht aus der Präsentation. Das Video, erklärte Museumsdirektor Martin Sullivan, werde zwar zu Unrecht als "Sakrileg" verteufelt, könnte aber trotzdem "auf manche Betrachter beleidigend wirken". Weshalb man es vorsichtshalber entfernt habe.

Wer jedoch annimmt, es habe zuvor einen Sturm der Entrüstung über das 23 Jahre alte Filmchen gegeben, der liegt eben gründlich falsch. Zwar sprach Sullivan von einer "starken Reaktion der Öffentlichkeit". Doch der Einzige, der sich zunächst davon stark beleidigt fühlte, war ein notorisch erzkonservativer Polit-Aktivist.

William Donohue, der Präsident der Moralhüter-Vereinigung Catholic League for Religious and Civil Rights, hatte auf seinem Blog gegen das Werk gewettert. Unter der Überschrift "Smithsonian zeigt antichristliches Ausstellung" erboste er sich über die "homoerotischen" und "*****grafischen Bilder schwuler Männer", die nichts anderes seien als "hate speech" - Volksverhetzung. Wojnarowicz habe sich seinen Aids-Tod selbst zuzuschreiben gehabt, doch "er starb nicht, ohne der Gesellschaft die Schuld für sein selbstzerstörerisches Verhalten zu geben".

"Christen-Beleidigung zur Weihnachtszeit"

Donohue ist bekannt für solche Tiraden. Einmal schimpfte er, dass "Hollywood von Juden kontrolliert" sei. Er bestand darauf, dass die katholische Kirche keine "Pädophilie-Krise" habe, sondern eine "Homosexuellen-Krise", und tat den Missbrauchskandal als "Hysterie" ab. Er polemisierte gegen Kinofilme und TV-Serien und regt sich alljährlich auf, dass sich die Amerikaner zu Weihnachten konfessionsfrei "Happy Holidays" wünschen statt ein christliches "Merry Christmas".
So regelmäßig bizarr Donohues Ausfälle auch sind, so stark ist offenbar seine Macht in Washington. Binnen Stunden hatte die Portrait Gallery die "Blasphemie" aus dem Programm getilgt. "Die Museumsführung ist empfindlich für die öffentliche Resonanz auf die Ausstellungen des Smithsonian", schrieb sie.

Die US-Republikaner sprangen sofort auf den Zug auf, in der Hoffung, ihrem Kulturkrieg gegen Homosexuelle neuen Auftrieb geben zu können. John Boehner, der designierte Sprecher des Repräsentantenhauses, nannte das Video "einen empörenden Missbrauch von Steuergeldern und einen offensichtlichen Versuch, Christen zur Weihnachtssaison zu beleidigen" - ungeachtet der Tatsache, dass die Show komplett privat finanziert ist. Kollege Eric Cantor forderte die Schließung der gesamten Ausstellung und drohte, dem Smithsonian die Staatsgelder zu sperren.

Ein Déjà-vu: Die aufgeblasenen Proteste der Rechten gleichen der Kritik, die Wojnarowicz schon zu Lebzeiten ertragen musste. 1989 wurde er von einer ähnlichen Organisation attackiert, der American Family Association. Doch das waren andere Zeiten: Gesellschaft und Politik kehrten Aids-Kranken da noch den Rücken, und schwule Künstler wie Robert Mapplethorpe sahen ihre Werke verfemt.

Warhols Erben mucken auf

Dass manche in Washington auch zwei Jahrzehnte später immer noch so denken, überrascht freilich nicht. Es ist kein Zufall, dass das Aids-Drama "Angels in America", das an den damaligen "Reagan-Horror" erinnert, gerade in New York solchen Erfolg hat. Was Offenheit gegenüber Schwulen und Lesben angeht, haben die USA seit der Aids-Ära zwar erhebliche Fortschritte gemacht, hinken jedoch vielen westlichen Staaten immer noch beklagenswert hinterher.

Die Abschaffung der Diskriminierung schwuler US-Soldaten scheiterte dank Hardlinern wie dem Republikaner John McCain gerade erst im Kongress, trotzdem sich das Pentagon selbst eingesetzt hatte. Die Debatte um die Zulassung der Homo-Ehe dümpelt von Gericht zu Gericht. Und im Sommer erschütterte eine Serie schwulenfeindlicher Attacken auf Schüler das Land. Homophobie, klagt Kolumnist Frank Rich ("New York Times"), gelte hier weiterhin nur als "leichtes Vergehen".
Das Board des Smithsonian schweigt beharrlich zu dem Fall. In dem Gremium sitzen unter anderem US-Vizepräsident Joe Biden, der Oberste Bundesrichter John Roberts und die Senatoren Patrick Leahy und Chris Dodd.

Trotzdem: Es ist eben nicht mehr 1989. So hat die einflussreiche Warhol Foundation jetzt gedroht, dem Smithsonian wegen "Zensur" den Geldhahn zuzudrehen. Die Stiftung verwaltet den Nachlass des schwulen Künstlers Andy Warhol. Mit bisher fast 400.000 Dollar Spenden gehören die Warhol-Erben zu den spendabelsten Geldgebern des Smithsonian.

Seit "A Fire in My Belly" aus der Portrait Gallery geworfen wurde, ist das Video außerdem zu einer viralen Web-Sensation geworden und ist auf YouTube und vielen weiteren Sites zu sehen. Zahllose andere Museen und Galerien im ganzen Land begannen es zu zeigen. Vor der CB1 Gallery in Los Angeles standen die Leute Schlange, um sich das Stück anzusehen. "Phantastisch", freute sich der Galeriebesitzer Clyde Beswick.

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Quelle: Spiegel online

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