Hi Melly,
selbständig zu sein heisst:
1. Sämtliche Sozialversicherungen aus eigener Schatulle zu zahlen, bei mir ca. 900 - 1200 Euro pro Monat, je nach Einkommen
2. Ewig Aquise betreiben und neue Auftraggeber umcircen. Sich von diesen AGs vorschreiben zu lassen, wann die fertige Arbeit abzugeben ist (in den meisten Fällen so, dass Nachtschichten ohne Aufpreis unumgänglich sind), ja sogar deren Bedingungen bzgl. der Bezahlung zu akzeptieren (sonst laufen die zur Konkurenz). Gute, alte AGs verprellen, weil man gerade einen Auftrag eines neuen Kontakts angenommen hat (bei uns handelt es sich ums Übersetzen von meistens Hunderten und auch Tausenden von Seiten), so dass für den alten Kontakt im Moment keine Zeit bleibt. Der ist dann sauer!
2. Feste Arbeitszeiten gibt es nicht! Soll heissen: Oft wird es 04.00 Uhr nachdem man schon den meisten Teil des Vortages in der Maloche steckte. Hat allerdings auch den Vorteil, dass man morgens um 10.00 Einkaufen gehen kann, wenn es denn die Zeit erlaubt, ohne einen miesmutigen Chef fragen zu müssen.
3, Im Fall von Krankheit vom Ersparten (so vorhanden) leben oder eine teure Versicherung dagegen abschliessen. Ich kenne viele Kollegen, die nach jedem Auftrag japsen, nur um die Nase über Wasser halten zu können (zum GLÜCK haben wir das nicht nötig und ich hoffe, das bleibt so!).
4. Mit seinem ganzen Hab und Gut für geleistete Arbeit haften. Sicher, auch hier gibt es Versicherungen, die allerdings so teuer sind, dass sich viele diese nicht leisten können.
5. Ständig auf dem Laufenden bleiben, sei es durch Lehrgänge, Vorträge, Kauf von neuen Geräten und Software, ebenfalls alles aus eigener Tasche zu zahlen!
6. Während der Arbeitsphase möglichst viel fürs Alter auf die Seite legen, wenn man nicht zum Sozialfall werden will.
Diese Liste könnte ich noch um einige Punkte weiterführen. So mancher der/die sich verselbständigt hat, denkt wehmütig an die Zeit zurück, wo man morgens um 08.00 im Büro erschien und dies um 17.00 verlies und sich in der Zwischenzeit möglichst schonte. Hatte man Bockmist gebaut, konnte man mit den Schultern zucken, ohne dass grosse Nachteile entstanden.
In der Regel feste Arbeitszeiten montags - freitags, 6 Wochen bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, alle möglichen Zuschüsse des Arbeitgebers, z.B. Vermögenswirksame Leistungen, etc.
Auch diesen Teil der Liste könnte man noch weiterspinnen.
Also, liebe Melly, selbständig zu sein heisst sich immer im freien Fall befinden, ohne Netz und doppelten Boden. Eine soziale Hängematte oder Netz gibt es nicht. Die Familie muss oft bluten, wenn es heisst: Sorry, keine Zeit, muss arbeiten und auch sonst ist die Familie oft angeschmiert!
Rückwärts schauend muss ich sagen, dass meine Entscheidung nach 35 Jahren im Angestelltenverhältnis (nachdem die Kinder weitestgehend auf eigenen Füssen standen, vorher hätte ich mich nicht getraut!) mich auf eigene Gefahr auf das Hochseil der Selbständigkeit zu begeben, richtig war.
Allerdings kenne ich viele Kolleginnen und Kollegen, die liebend gern einen per Gesetz zur Fürsorge verpflichteten Arbeitgeber hätten.
Ich hoffe, ich konnte Dir verdeutlichen, was es heisst, selbständig zu sein.